Die unendliche Stadt
80 Visionen künftigen Wohnens
Utopie verlangt einen Ausnahmezustand. Ist das Leben zu angenehm, benötigt es keinen utopischen Gegenentwurf. Als Sabine Pollak die Arbeit am vorliegenen Buch im März 2020 aufnahm, waren die Umstände der Entwicklung utopischer Stadtentwürfe denkbar günstig: Soziale Kontakte waren reduziert und öffentliche Räume seltsam geleert. Im Gegenzug implodierte das private Wohnen nahezu. Die abgeschlossene Situation lähmte den Körper und setzte zugleich ein gedankliches Abschweifen frei. Wenn man der Wohnung nicht entkommt, ist es auch ratsam, sich etwas zu suchen, was den Tag strukturiert. Zeichnen und Schreiben eignen sich dafür sehr gut. So entstand an einem der ersten Tage des Lockdowns die erste Zeichnung einer utopischen Stadt, begleitet von einer kurzen Geschichte dazu, in Anlehnung an die Unsichtbaren Städte von Italo Calvino.
Anfangs kamen täglich neue hinzu, später wurden die Intervalle länger. Jede Stadt und das Leben und Wohnen darin folgen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten und Ritualen. Nach eineinhalb Jahren liegen nun achtzig Stadtutopien vor – ein visionärer Strauß voller Möglichkeiten, wie künftiges Wohnen und Leben sein könnten.
Stimmen
»Pollaks Sprache ist präzise, trockener Humor hält die Miniaturen zusammen. Da gibt es eine Sechseckstadt, eine Medusenstadt und eine erotische mit dem Namen Visiona X, die sich auf Verner Pantons Rauminstallation Visiona 2 bezieht. Eine andere zeigt unter dem Titel Schlauchstadt sechs Wohnkugeln, die auch geflochtene Körbe sein könnten, verbunden durch Schläuche in Rot, Gelb und Grün. ›Wenn eine Kugel einatmet, atmet eine andere aus‹: Und wofür stehen die Farben? ›Panafrikanisch? Zu ideologisierend. Postkolonialistisch? Wahrscheinlich. Antikapitalistisch? Ja, doch. Reggae? Auf jeden Fall!‹
Ist das zu verspielt angesichts der laufenden Weltkatastrophen? Wohl kaum. Gerade nach Katastrophen braucht es Imagination, also eine Vorstellungskraft, die bildhaft über das Quantitative hinausgeht. Nur wer von Städten träumt, die schöner und lebenswerter sind als je zuvor, hat Kraft genug für einen Wiederaufbau.« (Christian Kühn, Die Presse/Spectrum, 4. März 2023)
»Die Textminiaturen bieten puren Lesegenuss, denn Sabine Pollak fügt offensichtlich von leichter Hand gehend Fachwissen, Reflexionen und Assoziationen in nur wenigen Zeilen zusammen. Und Pointen gehen sich auch noch aus. Im Eintrag ›Edelsteinstadt‹ heißt es etwa: ›2017 verwirklichte der Tessiner Architekt Mario Botta am Gipfel des Monte Generoso die so genannte Fiore di pietra, die Steinblume, ein Konferenz- und Restauranthotel, das einer sich öffnenden Blume gleichen soll, was nur mit viel Phantasie funktioniert. Eher gleicht es Cape Canaveral kurz nach dem Start eines Spaceshuttles.‹« (Reinhold Schachner, Augustin 559, 2022)